Heute ein emotionaler Brief von Lea Feynberg, Brief Nummer zwei aus dem #Coronatagebuch. Ich bin 1980 in Moskau geboren, 1991 sind wir nach Deutschland ausgewandert. Ich kenne leere Regale, wirklich leere Regal. Ultralange Schlangen vor Supermärkten und Drogerien. Gewisse Dinge gab es einfach nicht – fast nie, fast nirgendwo. Lebensmittelmangel – wohin man nur blickt. Eine Packung Milch gab es, wenn sich jemand richtig früh angestellt hat. Etwas Fleisch nur am Hinterausgang des Ladens, nur bei ganz viel Glück.
Ich kenne Ausreiseverbote. Ein Besuch in einem anderen kommunistischen Land war schwierig, in einem kapitalistischen Land unmöglich.
In meinen ersten zehn Lebensjahren teilte ich mir ein Zimmer mit meinem Bruder und meinen Eltern in einer Kommunalwohnung. Meine Mutter ist in derselben aufgewachsen, damals mit sieben anderen Menschen in einem Zimmer. Später in Deutschland, während unserer ersten Zeit hier, hatten wir 15 m2 zu viert, mit einer Kochplatte auf der Toilette.
Ich kenne eine Medizin, die diesen Namen nicht verdient. Meine Polypen wurden rausgenommen, während ich bei vollem Bewusstsein angebunden an einen Stuhl, verzweifelt meine Eltern vermisste und der Schmerz mir alle Sinne nahm.
Ich kenne auch die Einschränkung der Grundrechte. Meine Mutter musste an der Abenduni anfangen zu studieren, denn die Judenquote von 5% war an der juristischen Fakultät der Hauptuni bereits erfüllt. Als sie mit mir bei der Direktorin unserer Bezirksschule saß und mich anmelden wollte, bekamen wir zu hören: „Ich kann Ihr Kind leider nicht nehmen. Sie gehören nicht der Partei an und Juden können wir hier auch nicht gebrauchen.“
Und ich kenne eine Intensivstation, auf der meine Mutter letzten Sommer mit sechzig Jahren vierundsiebzig Tage lang beatmet wurde, eher sie den Kampf verlor.
Das wünsche ich niemandem – keine Intensivstation, keine künstliche Beatmung. Was ich jedem wünsche, ist Gesundheit. Und ein Leben in einem demokratischen Land, das alles auf die möglichst menschliche Art und Weise tut, um jedes Leben zu retten, das grundsätzlich überlebensfähig ist. Denn jedes verlorene Leben ist eins zu viel – unabhängig davon, ob sechzehn – oder achtzigjährig.
Mein Vater musste sein Geschäft schließen, mein Mann bangt um seinen Job. Ja, das Gefühl der finanziellen Angst ist bescheiden. Aber bei Weitem nicht dermaßen so schlimm, wie die Angst, einen weiteren geliebten Menschen zu verlieren.
Und das Gefühl der Freiheit war nie weg, wahrscheinlich weil ich es auch anders kenne. Und weil wir momentan keine Alternative haben.
Lea
Liebe Lea, ich wünsche deiner Familie viel Gesundheit. Alu
Hier nochmal Brief Nr. 1
Ich mache mir Sorgen. Wie gehen wir aus dieser Pandemie heraus? #Corontagebuch
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