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Der Weg zur Waldorfschule

Ich kapier das mit dem Osten nicht

Jede Fahrt mit einer S-Bahn Richtung Berlin Süd-Ost stellt hohe Anforderungen an die Barmherzigkeit. Umso mehr, steigt man dann in Schöneweide noch in den Bus um. Spätestens, wenn draußen die Haltestelle „Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit“ den Kontrast zum mitfahrenden Publikum bildet,
weiß man: Du musst jetzt ganz stark sein. Manche dieser grau-in-blau Gekleideten können lesen und schreiben. Der eine oder andere mag sogar jemanden näher kennen, der nicht nur Enrico heißt, sondern
auch so aussieht. Aber sag jetzt nichts. Schau weg und duck dich, macht man hier so.

Steig ganz schnell aus,

zwei Haltestellen vor dem ehemaligen NVA-Gelände, dessen neuer Zaun jetzt die Bundeswehr bezahlt. Schnellen Schrittes zur östlichsten Waldorf-Filiale dieser Stadt, wo mich S. begrüßt, es geht um die
Dekoration für den Adventsbasar. S. macht das immer toll, hat alle Orga-Listen im Griff, weiß, sich auszudrücken und sieht toll aus. Ihr Wortschatz übersteigt das des durchschnittlichen M.A.-Absolventen locker. Leichtfüßige Gespräche, mit doppeltem Sinnboden gar: kein Problem. Irgendein Heilberuf.

Auch wenn sie sächsisch spricht.
Ihr Mann dafür. Ihr Mann spuckt dafür vorm Sprechen den Kaugummi auf den Boden. Ich versteh sein
Berlin-Brandenburgisch trotzdem nicht. Sein Wortschatz kreist um den extrem ungelernten Job, den er so hat. Sein Geruch ebenfalls. Die Haare trägt er dem kulturellen Umfeld entsprechend, sagen wir, kurz.
Verachtung für die Studierten. Derbe Späße, affirmative Dreiwortsätze, pure restricted code, die Verkörperung des Icke, icke, icke bin een Berliner-Dumpfsinns. So, wie es ihn nur noch hier
gibt, in Berlin Süd-Ost.
Seine Frau, die Kluge, liegt ihm zu Füßen.
Ich verspreche, wirklich: Ich verspreche es, ich werde darüber nie mehr schreiben. Aber heute muss ich das noch mal sagen: Ich kapier das mit dem Osten nicht.
Jost Burger

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5 Comments

  • muell
    29. November 2013 at 20:40

    Also ich komme ja aus dem Nord-Osten und uns war der Süd-Osten auch stets fremd.
    Mein Vater meint, wir hätten dort sogar Verwandte. Dabei war das doch die Industriezone – aber vielleicht ist das das Problem.
    Doch ich betrachte die Problemlage einmal transzendent: Die Sonne geht im Osten auf (wenn auch nicht in Sachsen-Anhalt oder Berlin), die Wiederkehr des Weltenerlösers ist auch von dort zu erwarten – Vielleicht aus Richtung Schöneweide, direkt bei der Walddorfschule?

  • Jens Stoewhase
    2. Dezember 2013 at 07:56

    Ich komme aus dem Berliner Süd-Osten. Glaub mir, es gibt dort eine ganze Menge toller Sachen:

    https://www.mellowpark.de/
    http://www.inselberlin.de/
    http://audioberlin.de/

    Das sind nur drei Beispiele.

    Schöneweide – oder wie wir sagten Schweineöde – ist eine alte Industriegegend, die es nie leicht hatte und inzwischen im Wandel steht. Schau mal auf die andere Seite des Spreeufers – dort wächst und gedeiht der Campus der FHTW. In Adlershof ist der große Campus der Berliner Unis am Start und zahlreiche TV-Produktionen. In Grünau/Altglienicke findest du die voll erhaltene Tuschkasten-Siedlung von Bruno Taut. (http://de.wikipedia.org/wiki/Gartenstadt_Falkenberg)

    Köpenick ist sogar auf dem Wege, das nächste Prenzl-Berg zu werden. Dort ist die Gentrifizierung im vollen Gange.

    Es ist wie so oft – man muss wohl das Unbekannte nur mit den richtigen Leuten entdecken können. Ich habe Ostern 2000 die Stadt München mit der Hilfe von zwei Münchner Reggae-Skinheads entdecken dürfen. Bei strahlendem Sonnenschein und warmen Nächten haben sie mir ihr München gezeigt: willkürliche Polizeikontrollen, tolle kleine – nicht touristische – Biergärten, Clubs und den englischen Garten.

    Gruß JST

  • muell
    2. Dezember 2013 at 08:55

    Danke für das Geraderücken auch wir erliegen mancher kurzatmiger Polemik. Schöneweide hat Charme und München auch (komisch nur, dass auch ich kurz hinter München schon von der bayrischen Staatspolizei "spontan" untersucht wurde).

  • muell
    3. Dezember 2013 at 10:45

    Hallo JST, ich stimme dir zu, Schöneweide macht sich tatsächlich grad sehr. In vielem erinnert's mich auch an das ganz frühe Friedrichshain, wie ich es aus Erzählungen kenne, und das F'hain von vor zehn Jahren, wie ich es kenne. Mir ging's auch gar nicht um den Ort, ehrlich gesagt, sondern um die Verwunderung des Wessis über Beziehungsmuster, die er nicht kennt. Ich wundere mich auch über die Beziehungsmuster in anderen deutschsprachigen Ländern ;-), zum Beispiel in München. Andere wiederum wundern sich über meine Beziehungsmuster, vermute ich. Für mich ist es spannend, als studierter Ethnologe, wie sehr auch kleine Ortswechsel in Berlin gleich in ganz neue Umgebungen führen. Dazu passt ja auch deine Erfahrung mit den Münchner Reggae-Skinheads … Dort habe ich auch zehn Jahre gewohnt und häte nie gedacht, dass es sie da gibt! Danke für die doppelte Horizonterweiterung! Schöne Grüße – Jost

  • Jens Stoewhase
    9. Dezember 2013 at 10:21

    Yo Jost,

    alles easy und fein. 🙂

    Beim Thema Beziehungsmuster gibt es immer viel zu wundern. Kann ich gut nachvollziehen.

    Ich war einige Jahre als Tourmanager mit einer national bekannten Band unterwegs. Wir waren häufig auf Reggae- und HipHop-Festivals unterwegs. Was meinst, was ich da alles erlebt habe in Bezug auf Beziehungsmuster? Ganz großes Kino! 🙂 Das schreib ich hier lieber nicht ins Internet, sondern erzähle das gern mal bei einem Bier mit deinen Co-BloggerInnen hier.

    @Konstantin: Polemik – ist in etwa mein zweiter Vorname. ;-D

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