Wenn die Angst kommt, dann laufe ich ihr entgegen
Wenn die Angst kommt, dann tanze ich wie ein Ninja. Ich bewege meine Hände und drehe mich auf Zehenspitzen im Kreis.
Wenn die Angst kommt, dann atme ich wie ein Tiger. Ich ziehe die Nasenlöcher zusammen und stelle mich in den Schatten. Langsam, ganz langsam.
Wenn die Angst kommt, dann trampele ich mit den Füssen. Ich schlage sie aufs Holz und Beton und steppe im Klang der 20iger.
Wenn die Angst kommt, dann schließe ich die Augen. Ich sehe Lichtstreifen und kleine Punkte tanzen, wie Sonnenstrahlen.
Wenn die Angst kommt, dann lache ich ihr ins Gesicht. Ich grinse bis über beide Ohren und zeige meine Zähne.
Wenn die Angst kommt, dann lasse ich sie nicht gewinnen, denn sie nur ein Teil von mir – ein ganz kleiner –
Angst kommt in vielen Erscheinungsformen. Sie tarnt sich, schleicht sich an und versucht einen zu überlisten.
An einigen Tagen bin ich so wütend auf alles und jeden, dann ist die Angst am Zuge.
An einigen Tagen bin ich so traurig und fühle mich wie ein Fass vor dem Überlaufen, dann kickt die Angst mich in den Hintern.
An einigen Tagen bin ich so verloren, dass ich mir kaum meinen Namen merken kann, dann sitzt die Angst direkt neben mir.
Angst ist kein guter Berater, sagen die Zukünfte und ich sage: Angst ist ein Aas, ist ein Berg voller Widerstände, ist ein zu großer Topf Suppe den man nicht umrühren kann. Angst ist ein Fluss ohne Holzsteg. Ein Anruf, auf den man wartet, eine Schachtel, von der man die Öffnung nicht kennt.
Vor dem Krebs kannte ich nur die Angst um Andere. Jeder Kita- und Schulanruf, jeder Unfall, jeder Krankenhausbesuch. Ich fühlte die Angst, sie schloss sich an einigen Tagen fest um mein Herz. Mit der Erkrankung kamen das Trauma und die Angst um mich selbst. Wie wird alles werden, werde ich meine Kinder aufwachsen sehen? Was wird mit mir passieren? Was tut mir der Krebs an, was wird er uns antun? Was soll ich tun? Was kann ich tun?
Seit diesem Tag kommt die Angst in Wellen. Alle drei Monate zur Nachsorge, da schleicht sie sich an und will mich berühren. Beim Abtasten der Brüste, beim Arztbesuch, wenn man sich kränklich fühlt, dann steht sie neben mir. Dann fühlt man plötzlich den Schatten eines Berges, obwohl man im Flachland wohnt. Dann sieht man in der Pfütze plötzlich einen anderen Schatten, obwohl die Sonne scheint. Dann zittern die Finger und man kann keinen Schnürsenkel mehr zubinden.
Und dann? Dann atme ich und laufe und lebe mein Leben. Ich nehme die Angst mit an diesen Tagen, ich nenne sie „Vorsicht“ und „Unsicherheit“. Ich reiche ihr eine Decke, ich spreche mit ihr und über sie. Sie ist nicht die Bestimmerin, sie ist nur ein Teil von mir, seitdem ich verstanden habe, dass alles endlich ist. Seitdem ich weiß, dass Angst ein Gefühl ist, dass man fühlen darf. Seitdem weiß ich, dass ich auch als Mutter und Ehefrau Angst um mich selbst haben darf!
Wenn die Angst kommt, dann winke ich ihr also und laufe ihr entgegen. Ich sage Hallo und dann gehe ich weiter. Wie mit einer alten Bekannten tausche ich mich kurz aus und berichte daheim vom Gossip und dann, dann lasse ich sie ziehen…
Alu
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Wie ich lernte über den Krebs zu sprechen
28. Februar 2024 at 20:52[…] Wenn die Angst kommt, dann laufe ich ihr entgegen […]