Heute haben wir einen tollen Gastartikel von Natalie von Ganz normale Mama bei uns auf dem Blog. Unsere tolle Kollegin hat nicht nur ein Buch, sondern inzwischen ganz viele tolle Bücher geschrieben. Der heutige Gastartikel ist ein Auszug aus ihrem Buch „Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht““Talentförderung ab 3 Jahren“ steht an der Tür der Musikschule, in die Marie jeden Donnerstagnachmittag geht. Sie ist vier Jahre alt und geht mittwochs außerdem zum „Malkurs ab drei Jahren“ und dienstags zum Kinderturnen sowie am Montag zum „Kindertanzen ab drei Jahren“. Deshalb hat sie nur freitags Zeit zum Spielen, erzählt ihre Mutter. Aber da auch nicht immer, denn dann habe die große Schwester Reitunterricht und muss in den Reitstall gefahren werden.
Immer mehr Eltern zücken den Terminkalender, wenn man mit ein Play-Date für die Kinder ausmachen möchte. Gar nicht so leicht, einen Termin zu finden, wenn Klein-Marie jeden Tag einen ihrer Kurse hat! „Aber die Zeitfenster, die sich schließen, nie wieder lernt sie so leicht…“, sagt die Mutter entschuldigend. Außerdem machen das doch alle. Wenn dann die Tochter in die Schule kommt und als einzige kein Instrument spielen kann, wie sieht das denn aus? Eltern von heute gleichen immer häufiger Managern ihrer Kinder, die Termine organisieren, Leistungen abfragen und Zielvereinbarungen treffen. Sie haben einen Plan für ihr Kind und der muss eingehalten werden. Die Frage ist: Wo auf diesem Plan steht das Wörtchen spielen? Für Klein-Marie haben steht es in drei Wochen auf dem Plan. Da fällt der Malkurs aus und sie hätte zwei Stunden Zeit zum Spielen, aber nicht länger, denn danach muss sie noch Blockflöte lernen!
Kinder brauchen keine Frühförderung oder Talentförderung, um ihre Talente zu entfalten. Sie brauchen kein stupides Auswendiglernen und schon gar keinen Druck. Viel wichtiger ist es, dass Kinder eigene Erfahrungen machen und dabei auf eigene Faust Lösungen suchen. Denn jede neue Fähigkeit und Entdeckung löst bei Kindern, insbesondere bei kleinen Kindern, eine Begeisterung aus über sich selbst und über das, was die Welt an Entdeckungen zu bieten hat. Wir Erwachsenen kennen das auch: Wenn man sich für eine Sache begeistert, dann lernt man effektiver. Denn das, was einen wirklich interessiert, bleibt besser im Gedächtnis hängen. Unsere Aufgabe ist es also, unsere Kinder für Dinge zu begeistern und bei ihrer Begeisterung und ihrem Lernen zu ermutigen. Denn wenn sie keine Ermutigung oder Bestätigung erfahren, dann verschwindet auch ihre Lust daran.
Wichtig ist es, die Kinder die Erfahrungen selbst machen zu lassen und selbst auf Lösungen kommen zu lassen. Denn nur so werden die Nervenzellen im Gehirn entsprechend verknüpft. Der Motor des Lernens ist dabei das Spielen. Doch dafür bleibt im durchgetakteten Alltag oft keine Zeit. Wann sollen Kinder in Ruhe ins freie Spiel finden, wenn sie zwischen Hausaufgaben, Schwimmunterricht, Klavier üben und Insbettgehen kaum eine freie, ungeplante Minute haben?
Deshalb ist es wichtig, Kinder nicht in ein zeitliches Korsett zu pressen und jeden Nachmittag zu verplanen.
Auch wenn Kinder Highlights einfordern wie Schwimmengehen oder Minigolf, es muss auch Zeit bleiben, einfach mal nichts zu tun. Zeit zum Vertrödeln, Zeit für Freunde, ja, auch Zeit für gepflegte Langeweile. Ganz ohne Animation von Seiten der Eltern. Um ins freie Spiel zu finden, benötigen Kinder Ruhe, Zeit und auch eine gewissen Leere. Wenn wir Eltern sie ständig mit Angeboten und gut gemeinten Vorschlägen überfrachten, dann können Kinder das freie Spiel auch verlernen und gar nicht erst in diesen Flow finden, der beim freien Spielen entsteht. Die Zahl der Stunden, die Kinder jedoch frei spielen können, ist seit den 80er Jahren kontinuierlich zurückgegangen, in dem Maße haben dafür Dinge wie Übergewicht bei Kindern, psychische Störungen und Selbstverletzungen zugenommen.
Das freie Spiel entsteht bei Kindern aus einem inneren Bedürfnis heraus, sich auszudrücken und aus dem Drang, sich weiterzuentwickeln. Durch das freie Spiel und dem damit verbundenen eigenständigen Bewältigen von Herausforderungen werden Kinder selbstsicherer und lernen, in die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen. Dadurch wird eine Art Grundgerüst gebildet, auf dem die Kinder ihr Leben lang aufbauen. Aber anstatt ihre Kinder einfach mal spielen zu lassen, versuchen viele Eltern die Zeit möglichst „pädagogisch wertvoll“ zu nutzen. Selbst, wenn die Kinder freie Zeit haben, wird oftmals versucht, das Spielen einen „pädagogisch wertvollen“ Touch zu verleihen. Da werden Spielzeuge mit dem Prädikat „von Pädagogen empfohlen“ gekauft und im Bücherregal häufen sich Sachbücher und Gesellschaftsspiele mit dem Stempel „fördert die Motorik“ oder „spielerisch Zahlen lernen“. Bei fast allen Tätigkeiten wird betont, dass man dabei ja auch etwas lernt oder eine bestimmte Fähigkeit gefördert wird.
Muss das so sein? Nein. Es muss nicht immer alles einen tieferen Sinn haben!
Wir Erwachsenen schauen ja auch nicht ausschließlich anspruchsvolle Arte-Dokumentationen oder lesen schlaue Sachbücher. Und genauso wie wir uns auch gerne von einer Serie berieseln lassen oder uns beim Lesen eines seichten Liebesromanes vom Alltag wegträumen, brauchen Kinder auch ziellose Zerstreuung. Ablenkung. Im Leben geht es schließlich auch ums Genießen! Ums Spaß haben! Das Praktische bei Kindern: Sie lernen auch beim Spaßhaben, ganz nebenbei beim Spielen. Denn durch das freie Spielen üben sie die entscheidenden Kernkompetenzen wie etwas mit eigenen Mitteln zu schaffen, Kommunikationsfähigkeit, Probleme selbst zu lesen, innovativ zu sein, Teamfähigkeit und Einfühlungsvermögen. Sie lernen, sich auf eine Sache zu konzentrieren und Dinge genau zu beobachten. Nicht zu vergessen: die Kreativität. Wer einmal einem Kind zugeschaut hat, wie es aus einem Pappkarton ein Flugzeug entstehen lässt, der weiß, was ich meine.
Also, lasst eure Kinder spielen, anstatt sie mit übermäßigen Förderangeboten zuzuknallen. Das in den Tag hineinspielen, ist es nicht das, was Kindheit ausmacht?
Das ist ein Auszug aus dem neuen Buch von Nathalie Klüver „Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, in dem sie dafür plädiert, jedem Kind sein eigenes Tempo zuzugestehen und Tipps gibt, wie Eltern sich aus dem „mein Kind kann aber schon“-Wettbewerb raushalten können. Ohne einen erhobenen Zeigefinger, mit Humor und fundiert recherchiert ermutigt die Dreifachmutter dazu, einen eigenen Weg für die Erziehung, das Familienleben und Elternsein zu finden, ganz ohne Stress und Druck.
Was das Buch auch so lesenswert macht: In jedes Kapitel führen Kolumnen aus dem Elternleben ein, wie Nathalie sie auch auf ihrem Blog ganznormalemama.com schreibt. Schaut unbedingt bei ihr rein!
Alu
1 Comment
Flo
21. September 2021 at 11:37Den vollen Terminkalender hat man ziemlich schnell auch ohne expliziten Förderwahn. Es ist ja nicht ungewöhnlich, wenn ein Kind z.B. zwei selbstgewählte (!) Hobbies hat, beispielsweise ein musikalisches Hobby und ein sportliches Hobby. Meine Tochter beispielsweise spielt Klavier und trainiert die Kampfkunst Wing Tsun.
Irgendwann kommt erfahrungsgemäß der Moment, wo einmal die Woche Training nicht mehr ausreicht, insbesondere wenn das Kind in einem oder sogar beiden Hobbies außergewöhnliches Talent zeigt und man das unterstützen möchte. Das Kind möchte dann ja auch mehr machen (zumindest meine Tochter), weil sie merkt, dass sie diese Dinge dann besser beherrscht und damit auch Anerkennung bei ihren Trainern und anderen Kindern gewinnt.
Und wenn man dann nicht nur ein Kind hat, sondern mehrere, denen man die gleichen Chancen bieten will, wird der Terminkalender nun mal entsprechend voller.
Was allerdings hilft, ist nicht immer alle Kinder zu den Aktivitäten des einen Kindes mitzunehmen. Beispielsweise kann meine Tochter inzwischen auch mal gut für 2 Stunden alleine zu Hause bleiben, wenn wir mit ihrem kleinen Bruder zum Musikkurs fahren. Oder sie geht in der Zeit zum Spielen beim Nachbarsjungen. Und den Weg zum Klavierunterricht schafft die Tochter inzwischen auch alleine zu Fuß, so dass wir da auch Zeit zum Spielen mit ihrem kleinen Bruder haben.
Ihr habt schon Recht: Zeit zum freien Spielen muss sein. Aber ich kann es eben auch verstehen, wenn die Terminpläne immer enger werden.
Bei einer Passage Eures Artikels musste ich allerdings schmunzeln: “Wir Erwachsenen schauen ja auch nicht ausschließlich anspruchsvolle Arte-Dokumentationen oder lesen schlaue Sachbücher.”
Mir ist dabei aufgefallen, wie lange es bei mir selbst her ist, dass ich mal wirklich einen Roman oder einen Spielfilm zur Unterhaltung konsumiert habe (das war definitiv vor Corona). Puh… ich lese wirklich nur noch Sachbücher und schaue Arte-Dokus.