Am frühen Mittwochmorgen fährt mich der Mann zum Bahnhof. Meinen Becher mit heißem Tee packe ich mir in die Jackentasche, alles muss schnell gehen an diesem Morgen. Wir beide sind pünktlich am Bahnhof und können noch das Missgeschick beheben, dass der heiße Tee mir in die Jackentasche ausgelaufen ist (ich hatte den falschen Deckel genommen – hallo Chemobrain).
Die Bahn kommt natürlich nicht pünktlich. Ich bin ja froh, dass sie es vor 2070 schafft (siehe Link) in Gesundbrunnen einzufahren. Mit wenig Gepäck starte ich auf meine Reha. Es geht in die Strandklinik nach Boltenhagen, direkt ans Meer. Meine erste Alleinreise seit zwölf Monaten, eine erste Trennung von unserem Sohn seit 12 Jahren. Während die Mädels Reisen ihrer Mutter schon kennen, habe ich den Sohn immer mitgenommen und war häufiger auch mit ihm auf Reha oder Kur, für uns beide ist dies also eine neue Erfahrung.
Auf nach Boltenhagen, das geht auch mit dem Zug (manchmal)
Beim Umstieg und Ausstieg klappt alles, eine rauchende Kleinbusfahrerin bringt vier Frauen zur Klinik am Meer. Ich ziehe in mein Zimmer ein und falle aufs Bett. Koffer sind noch keine angekommen, ich hoffe noch auf den Nachmittag (vergeblich). Ich habe gleich ein Arztgespräch und kaue dort meine Krebsgeschichte durch. Nach einem Nickerchen erkunde ich dann ein bisschen die Gegend und schlurfe zum Abendbrot. Ich erhalte einen festen Tischplatz und teile mir meinen Tisch mit zwei sehr netten Frauen, die keinen Brustkrebs hatten (was mich für sie freut).
Ohne Koffer wird es ein kurzer Abend. Zum Glück hatte ich im Handgepäck für einen Tag vorgesorgt und so versuche ich neben dem Lärm der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter meinem Fenster einzuschlafen. Am nächsten Morgen steht sehr früh ein Gespräch an, danach gehe ich zur Patientenverwaltung. Am frühen Morgen war ich nämlich vom Vibrieren des Zimmers geweckt worden und von sehr lautem LKW Lärm. Anscheinend liegt mein Zimmer über der Anlieferung.
Anscheinend bin ich die anstrengende Patientin
Ich trage in der Verwaltung ruhig mein Anliegen vor, dass ich gern das Zimmer wechseln möchte. Ich erkläre, dass ich Krebspatientin bin und ein hohes Ruhebedürfnis habe. Die Dame von der Verwaltung reagiert sehr ungehalten und erklärt mir allen Ernstes, dass sie es schlimm findet, dass ich kein Verständnis für die tägliche Anlieferung von Lebensmitteln hätte. Ich muss wirklich sagen, das es mir sehr schwer fällt in diesem Moment nicht zu weinen. Es ist ein furchtbares Gefühl, als wirklich sehr kranker Mensch solch eine Täter-Opfer-Umkehr zu erleben. Ich schlucke und antworte sehr ruhig, dass die Dame gar nicht wissen könne, wie und was ich derzeit fühlen würde. Und das ich hoffentlich nicht mehr viele Reha-Maßnahmen vor mir habe und genau deswegen ein anderes Zimmer brauche – mit Ruhe.
Erste Tipps für Boltenhagen
Danach gehe ich. Ich spaziere die Wut und die Tränen weg und bewege mich etwas nach Boltenhagen hinein. Wirklich zauberhaft hier. So viele schöne alte Villen und alles sehr sauber, wow! Ich leihe mir ein Rad in einem Laden und esse Törtchen in einem skandinavischen Café (sehr empfehlenswert).
Gerade noch pünktlich komme ich zum Vortrag über die Sanitätshaus Versorgung, bei dem es sehr viel um Prothesen und Epithesen für amputierte Brüste geht und ich häufiger schlucken muss, da eine Frau neben mir still weint. Ich selbst sehe einige schöne Modelle, die nicht allzu sehr nach Oma aussehen und habe immer wieder das Gefühl: Ich bin mit die Jüngste im Raum. Wie sauer ich auf diesen Kack Krebs bin, dass er mich mit gerade mal 40 Jahren in diese miese Situation gebracht hat. Ich möchte meine BHS nicht im Sanitätshaus kaufen müssen, immer wieder über meine Narben nachdenken und mich körperlich fühlen wie 80 (schätze ich mal).
Mein Kopf fährt Fahrrad (aber keine gerade Strecke)
Ich bin verwirrt, angestrengt und gehe aufs Zimmer. Am Abend suche ich weiterhin meine Koffer und erhalte dann noch die Nachricht, dass ich morgen früh umziehen darf – ein Glück. Ich ziehe am nächsten Morgen um und haben neben Sportprogramm nun schon einige Vorträge gehört und meine Level bei Animal Crossing (Nintendo Switch Spiel) ordentlich gesteigert, eine neuartige Mischung für mich.
Jetzt sitze ich also hier in meinem ruhigen Zimmer, nebenan singen ein paar Vögel und meine Koffer sind auch endlich angekommen. Heute habe ich mal probiert mit zwei jüngeren Brustkrebspatientinnen Kontakt zu knüpfen, aber anscheinend habe ich meinen typischen Alu-Charme verloren. Beide hatten kein Interesse (wir standen in der gleichen Schlange zu den Torten) und so habe ich heute mit niemandem geredet, außer mit der zeitgleich anreisenden Dame, die einige Tische vor mir sitzt (und die ich von Instagram kenne). Ich fühle mich seltsam auf mich zurückgeworfen und sehr allein mit meinen Gedanken rund um die Krankheit und das was werden wird. Als ich vorhin mal nachschaute, ob es irgendeinen Austausch, einen Workshop, mit anderen Betroffenen im Wochenplan gibt, da konnte ich nichts entdecken und so seufze ich in mich hinein.
Ich bin jemand, der gerne sehr gezielt mit Menschen spricht. Smalltalk ist gar nicht so sehr mein Ding. Ich schätze tiefe und schöne Gespräche und ich höre sehr gern zu. Es hilft mir beim innendrin Ordnen, wenn andere Menschen mir von sich erzählen. Ich rede aber weniger gern mit mir selbst. Meine Gedanken bringe ich dann eher zu Papier oder sie kommen aus meinem Mund, in ruhigen Momenten. Vielleicht habe ich mich durch diese Krankheit ja so sehr verändert, dass ich das lockere Etwas verloren habe und nur die Alu-Schwere beim Kontaktversuch geblieben ist? Vielleicht habe ich es auch verlernt, zu connecten? Vielleicht braucht das alles aber auch einfach noch mehr Zeit und Meeresluft und Torte? Wer weiß das schon so genau? Inmitten von vielen älteren Frauen fühle ich mich manchmal fehl am Platz und dabei verbindet all diese Frauen doch ein ganz wichtiger roter Faden: Sie sind “still alive”, wie ich!
Schlaft gut, Eure Alu
10 Comments
Jessika Rose
14. Mai 2023 at 08:18Und vielleicht geht es den anderen ähnlich wie dir und dann schweigen sie lieber. Oder sie sind einfach doof (was ich nicht hoffe und auch nicht annehme, aber theoretisch möglich ist es ja schon.)
Ich glaube jedenfalls nicht, dass du dich so sehr verändert hast. Wir brauchen für die Aktivierung einiger unserer Fähigkeiten das passende System um uns herum. Und manchmal sogar die passenden Menschen.
Ich fühle sehr, was du zum Schweigen und auf sich zurückgeworfen sein geschrieben hast und schicke dir eine Umarmung!
Kathrin
14. Mai 2023 at 18:48Liebe Alu, ich lese sonst meist still mit. Ich fühle mit Dir, alleine für mich schweigen bringt bei mir vor allem wirre Selbstgespräche und komische Gedankenkarussels. Da ich beruflich sehr oft mit älteren Damen spreche (ich arbeite bei einer Sparkasse) und sich dabei häufig sehr interessante Gespräche mit sehr interessanten Lebensgeschichten ergeben, möchte ich Dich ermuntern, dem älteren Semester um Dich herum eine Chance zu geben. Oft haben diese Semester sogar sehr viel Wertschätzung für unsere Generation. Ich sitze daher auch gerne mal mit unserer über 80ig jährigen Gartennachbarin zusammen bei einem Cappuccino zusammen und plaudere. Vielleicht bringt es Dich auf andere Gedanken. Ansonsten wünsche ich Dir alles Gute und dass die Reha noch näher an Deine Erwartungen heran kommt! Und ja, Krebs ist ein Arsch!!!
Das Wochenende in Bildern 13/14.05.2023 - ihre, seine und eure Sicht
14. Mai 2023 at 19:09[…] in das Café Lindquist, was ich auch in meinem neuen Artikel erwähnt habe. Sehr […]
Herzkind
14. Mai 2023 at 20:10Liebe Alu, wie schön, dass du ein ruhigeres Zimmer bekommen hast! Und tut mir sehr leid, dass du dafür erst diesen Kampf führen musstest. Ich wünsche dir, dass sich die Kontakte und Gespräche, die du gerade brauchst, noch ergeben!
LG Herzkind
Auf Reha mit Brustkrebs in Boltenhagen
18. Mai 2023 at 09:58[…] Die Reha – Teil 1 #Brustkrebs […]
Birgit
19. Mai 2023 at 15:22Boltenhagen ………eine Sache für sich kann ich nicht empfehlen die Gründe sind naheliegend die Physio Schulz kann man na ja vergessen bestimmt was man an Anwendungen kriegt oder nicht nimmt einen durch Beeinflussung Therapie weg wenn man nicht mit machen kann weil man nicht kann wird man beobachtet und kontrolliert……könnte ja anders sein …….Patienten die nach einem Zimmer mit Meerblick fragen bekommen die Zimmer zur Strasse………als Krebspatient und selber vom Fach muss ich leider sagen ganz ehrlich gesagt…..mehr als schwach……manche Patienten sind trotz Krebserkrankung sehr unfreundlich abweisend anderen Gegenüber und das sogar zu Tisch ……es gibt welche fie wechseln extra den Tisch einfach nur primitiv blöd sollten lieber sehen das die gesund werden und sind selber Krankenschwester lächerlich dumm
Birgit
19. Mai 2023 at 15:45Als Krebspatient hat man 3 Rehas Anspruch 1. AHB nach OP 2 . AHB nach Bestrahlung 3. AHB nach Chemo je 3 bis 4 Wochen je liegt daran wie gut Ihr euch durch setzen könnt . Diese Rehas sind für die Akutphase .Dann gibt es noch 3 Rehas Anspruch 1 . Nachkur erste 2. Festigungskur zweite innerhalb eines Jahres nach Ende der Akutphase 3 . Stabilisierungskur damit ein Rezidiv ausgeschlossen wird . 4 . Psychosomatische Stationäre Rehabilitation kann beantragt werden . Onkologische Rehabilitation stationär kann jedes Jahr beantragt werden . Sollte ein Rezidiv entstehen hoffentlich nicht geht das gleiche von vorne los . Beantragt werden die Rehas Krankenhaus Sozialdienst Antrag stellen bei der Rentenversicherung Krankenkasse und wenn man in NRW wohnt Arge Bochum. Finanzielle Hilfe gibt es Krankenhaus Sozialdienst und Krebsbekämpfung da wo Ihr wohnt Krebsbekämpfung Bonn und Krebsbekämpfung Berlin . Antrag auf Schwerbehinderung kann auch beantragt werden.
Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 21.5.2023 – Buddenbohm & Söhne
21. Mai 2023 at 20:18[…] Noch eine Entfernung aus dem Alltag, aber eine vollkommen anders geartete: Reha-Erfahrungen. […]
Biki
22. Mai 2023 at 06:05Falls du mal wieder eine Reha-Klinik suchst, kann ich Kassel Habichtswald sehr empfehlen.
Genau dieser Austausch steht dort sehr im Mittelpunkt. Das fand ich sehr hilfreich.
Hab eine gute Zeit!
Monika
22. Mai 2023 at 11:15Hallo Alu,
in deinem Reha Text finde ich mich so sehr wieder! Und das bringt mich dazu, meine stille Leserschaft mal zu durchbrechen und dir zu schreiben!
Meine erste Reha habe ich in einer gemischten Rehaklinik gemacht (Orthopädie/Onkologie) – da wusste ich noch nicht um meine Rechte bei der Mitentscheidung der Rehaklinik. 200km von zu Hause weg war das Kriterium, ich habe von den drei angebotenen die mir am angenehmsten wirkende ausgesucht. Befand mich dann als relativ einzige junge Tumorpatientin (41) mit vergleichsweise gleichaltrigen Bandscheibenpatienten, die jeden Abend Bier- und Weinpartys veranstaltet haben… und die natürlich nicht im Ansatz an einem Austausch, wie ich ihn gesucht habe interessiert waren..
Aber nach deinem Motto – darauf einlassen – habe ich vor allem Zeit mit mir selbst verbracht, die Natur genossen und diese Zeit schätzen gelernt.
Ein Jahr danach habe ich mich dann für Bad Oexen entschieden! Wurde genehmigt und ich war hin und weg von dieser Klinik.
Vor allem, wenn man mit der Einstellung „darauf einlassen“ dort ankommst – die ich ja hatte wird man durchgehend positiv überrascht!
Eine Auszeit ohne gleichen, ich hatte wunderbare und unvergessliche, berührende Begegnungen mit Mitpatienten – das Personal umsichtig, freundlich und kompetent! Du merkst, ich mache wirklich Werbung dafür!!
Falls du in einem Jahr nochmal Reha machst, schau dir Oexen mal an – lege ich dir wirklich ans Herz!
Und jetzt natürlich: – ich liebe euren Blog!!
Liebe Grüße aus Nürnberg,
Monika