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Elternleben

Warum habe ich diese Wundertüte geboren?

Dein Geburtstag. Ich sitze am Abend völlig erschöpft auf dem Sofa. Allein. Du hast dich seit 16.30 Uhr in dein Zimmer verkrochen. Zu laut, zu viele Menschen. Zu viel. Alles zu viel.Ich lasse dich gewähren. Trinke Kaffee mit deinen Großeltern. Ich spiele mit deiner kleinen Schwester. Ich schneide deinen Lieblingskuchen auf, extra für dich gebacken. Wenn ich mich hinsetze verschwindet mein Lächeln, nur nicht hinsetzen und nachdenken, nur nicht HINSETZEN.

Ich bereite Abendbrot vor. War extra dafür mit der Krücke für dich einkaufen. Ich mache die Pizza GENAU so wie du sie magst, sonst isst du sie nicht. Wirst sie nicht mal probieren. Ich bereite zwei Pizzen vor. Eine für die Gäste. Eine NUR für dich.  Nur Sauce, nur hauchdünne Tomaten, nur Mozarella – nichts weiter. Ich kenne deinen Geschmack.

Ich schenke Getränke aus. Früchtepunsch. Kalt und warm, so wie du es magst. Nur nicht hinsetzen und nachdenken, nicht HINSETZEN.

Deine Gäste gehen. Es waren die gleichen Gäste wie immer, nichts Großes, nichts Neues. Alles wie immer. Keine Neuerungen, bloß nicht. Du rufst von oben “Tschüssi” und stehst da in deiner Unterwäsche.

Dein Vater geht zu dir. Du liegst im Bett. Seit drei Stunden liegst du da. Kannst nicht runterkommen. Kannst dich nicht blicken lassen an deinem Geburtstag. Deine unausgepackten Geschenke starren ins Leere. Die Kaffeetassen schauen mich an. Ich setze mich auf das Sofa. Habe mich nun also endlich HINGESETZT und denke nach.

“Wieso, habe ich diese Wundertüte geboren? Wieso kein Kind was einfach funktionieren kann? Was wirklich da ist, was lächelt und sich artig bedankt? Wieso?”

Ich kann nur selbst den Kopf schütteln. Bin traurig. Traurig über meine viele Arbeit für diesen Tag, die du gar nicht wahrgenommen und auch nicht gebraucht hättest. Bin traurig darüber, dass du sie nicht sehen kannst. Bin vor allem aber traurig darüber, dass ich heute traurig bin. An deinem großen Tag.

Die Minuten vergehen. Der Mann kommt und sieht mir alles an. “Danke für deine Arbeit”, sagt er und ich nicke. Bedanke mich auch bei ihm für seine Vorbereitung.

Ich höre deine Schritte auf der Treppe. Endlich ist es still. Du bewegst dich auf Socken durchs Treppenhaus.

“Bist du sauer, Mama?” fragst du mich, als du dir ein Stück Pizza holen kommst.

“Nein. Ich bin niemals sauer auf dich. Ich liebe dich, aber heute bin ich mal wieder traurig darüber, wie schwer mir manchmal diese Tage mit dir fallen. Wie sehr ich noch an mir arbeiten muss”, sage ich und du bist schon wieder gegangen, die Treppe hinauf.

Ich winke dem Sockengang hinterher. Da sitze ich nun also, völlig in Gedanken nach diesem Tag und weiß ziemlich genau: Das Leben mit dir ist das tägliche Leben mit einer neuen Wundertüte. 

Ich öffne die Wundertüte und wachse an ihren Aufgaben. Es wird niemals langweilig. Niemals still. Es gibt keine Pausen. Kein Luft holen. Es ist wie das Leben mit einem Wirbelsturm, innen und außen. Mit dir lerne ich so viel über mich, über uns, und das Tag für Tag.

Wenn man denkt: Heute habe ich alles im Griff, dann kommst du um die Ecke gefegt und belehrst mich eines Besseren.
Es gibt keine Gewissheit, kein Abarbeiten mit dir. Alles ist echt. Alles ist ungefiltert. Alles ist eins und alles ist immer wieder herausfordernd und bringt mich zum Nachdenken und Umdenken. 

Was für ein Leben. Was für ein Kind. Was für eine Wundertüte. Was für eine tägliche Überraschung!

Was für ein Moment sich einfach mal HINZUSETZEN.

Happy B. mein Sohn,

Alu

Spürst du die Liebe?

Wundertütenkind - DAs Leben mit einem Kind mit Autismus

 

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5 Comments

  • Anne
    15. Dezember 2021 at 08:15

    Hallo Alu,
    warum bist du so hart zu dir, zu sagen, dass du noch sehr an dir arbeiten musst? Ich finde es mehr als verständlich traurig zu sein, wenn er deine sorgsamen Vorbereitungen nicht annehmen kann. Wie ich es auch verständlich finde, es nicht annehmen zu können, wenn es nicht geht. Ich lese aus deinem Text ganz viel Wärme, ihn nicht zum funktionieren zwingen zu wollen. Welches Geschenk der Welt soll da noch besser sein?
    Schön, dass es dich gibt und danke für den Text.
    LG

  • Suomitany
    15. Dezember 2021 at 09:59

    Vielen Dank für diesen so wertvollen und ehrlichen Beitrag. Das Leben mit Kindern (und gerade das mit “besonderen” ) ist eben nicht immer nur schön und einfach.
    Liebe Grüße, Tany

  • kebien
    15. Dezember 2021 at 10:15

    Ich hätte das nicht gekonnt. Bewunderung für deine Art, mit dem besonderen Kind umzugehen. Du bist da meilenweit vorraus. Danke für den Anstoß

  • Inga
    15. Dezember 2021 at 13:56

    Liebe Alu,

    Dein Text hat mich sehr berührt und zum Nachdenken gebracht über meine Reaktionen auf mein Kind, das auf seine Art täglich unberechenbar ist. Ich hätte in deiner Situation auch viel Wut empfunden, selbst wenn ich gewusst hätte, dass das Kind nicht anders kann. Ich bewundere dich für deine liebevollen Worte. Ein wunderschöner Text. Und was für ein Glück er hat mit euch als Eltern. Vielleicht weiß er das jetzt noch nicht (immer), aber später wird er es wissen. Tu dir selbst etwas Gutes heute!
    Liebe Grüße

    Inga

  • Becks
    16. Dezember 2021 at 19:42

    Hallo liebe Alu,

    Ich habe mich gerade bei dir so sehr wieder erkannt… ich weiß nicht welche Diagnose bei euch im Raum steht, wir hängen gerade in der Diagnostik für eine Autismus Spektrum Störung…. Ich habe oft das Gefühl die einzige zu sein die meinen Sohn versteht und ihm den Raum geben kann in dem er sich wohl fühlen kann …. Du bist stark und wundervoll also ich bewundere dich auf jeden Fall und wünsche dir von Herzen weiter die Kraft seine Liebe zu dir zu erkennen ❤️

    Liebe Grüße Becks

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