Die Luftblase auf meinem linken Ringfinger hält sich bis zum nächsten Auftauchen. Mein Atem geht langsam und gleichmäßig. Ich schwimme. Jeden Tag schwimme ich hier auf der Reha, schalte den Kopf aus und folge nur den Luftblasen auf meinen Nägeln oder dem immer gleichen Rhythmus meines Atems.
Lange, wirklich sehr lange, habe ich mich nach dieser Stille gesehnt und nun wenn sie mich umgibt, mich umfängt, hadere ich mit ihr. Meine Familie fehlt mir, das Gewusel, die lieben Umarmungen. Hier umarmt einen Niemand. Man soll lernen sich selbst zu umarmen, aber ich bin schlecht darin, weil ich noch immer wütend auf meinen Körper bin und meine Arme auch viel zu kurz sind.
Im Wald lasse ich meine Füße durch die Blätter rascheln. Ich schiebe meine Wanderschuhe richtig in das nasse Laub und mag es, wenn dann kleine Widerstände auf die Schuhspitze treffen. Ein spitzer Stein, eine kleine Wurzel. Ich spüre den Wald und der Wald spürt mich, für diesen kleinen Moment. Meinen Kopf verstecke ich unter bunten Mützen. Ich habe drei Stück in den Koffer geworfen letzte Woche, die Auswahl tut gut. “Na Tanzmaus”, sagt Birgit zu mir, als wir uns auf dem Waldweg treffen und ich nicke ihr zu und gehe langsam weiter. Ich will nicht reden, nur da sein. Nur den Wald hören und riechen und laufen.
Tanzmaus, das stimmt. Gestern Abend habe ich mich bei der Klinikdisco hinreißen lassen. Ich habe meine Füße bewegt und meinen Körper im Takt gewogen. Die Musik habe ich bis in die Fingerspitzen gespürt. Mir war egal ob jemand guckt. Ich fühlte mich wie beim Wocheneinkauf beim Penny. Ich schob meinen Wagen durch die Gänge und legte das Gemüse hinein. Ich zirkelte meinen Hintern vorbei an den Sonderangeboten. Ich hörte die Töne und meine Arme spielten sie aus. Ich konnte nicht stoppen, tanzte einige Lieder und DJ Tom rief mir über die Tanzfläche zu “Da fühlt jemand die Musik” und ließ mich gewähren. Im Penny sagt nie jemand was, wenn ich meinen Wocheneinkauf erledige.
Ich bin traurig, in einigen Momenten laufen mir Tränen über die Wangen. Traurig und wütend. Weil meine Freundin nicht hier sein kann mit mir. Weil sie mir fehlt. Weil sie letzte Woche gestorben ist. Ich bin wütend, weil sie jung war und schön und toll und Krebs ein Arschloch ist. Auf meiner letzten Reha waren wir gemeinsam. Wir kannten uns schon vorher, aber dort trafen wir uns. Jeden Tag. Wir tranken Cappuccino am Strand und das Lachen ihrer kleinen Tochter aus Videos klang in unseren Ohren. Ich bin traurig, weil das alles die Reihenfolge durcheinanderbringt. Weil niemand sterben sollte, der selbst nicht mindestens Oma oder Uropa ist. Weil ich allein an diesem Meer stehe und mir ihre Stimme fehlt. Weil sie wusste was passieren würde und aus Wochen dann Tage wurden und dann nur noch Stunden übrig waren. Stunden für sie und ihre Liebsten. Ich bin wütend, weil meine letzte Nachricht an sie banal war und meine wöchentlichen Postkarten zu spät kamen, genau in diesen Tagen.
Wutwandernd gehe ich jeden Tag meine 10.000 Schritte. Ich stapfe in Mamas gestrickten Socken über die Strände von Usedom. Am Essenstisch lausche ich Petra, Uschi und Gerlinde. Auch hier bin ich mit die Jüngste. Krebs mit 40, das ist nicht vorgesehen. Ich finde das auch wirklich anmaßend von meinem Körper mich in diese Situation zu bringen, was soll der Mist? Nach dem Krebs ist man körperlich wie 80, zumindest das passt sich an. Ich schleiche genauso wie Uschi die Treppe mit den 111 Stufen hoch. Ächz.
Mir fehlt Eiweiß und Calcium, die Ärztinnen geben mir nun täglich ein Ei. Ich glaube Petra isst meines heimlich, bis jetzt war nämlich nur einmal eines für mich am Extratresen vorhanden. Petra überholt mich jetzt aber beim Nordic Walking, sehr verdächtig. Ich esse dafür mehr Käse, damit ich fit werde und bald wieder arbeiten gehen kann. Arbeiten und für die Rente sparen. Mein Hirn lacht sich kaputt über diesen Sinn des Lebens. Am Leben sein und gesund werden, das Ziel sollte eigentlich auf jedem Anreisebogen stehen. Birgit sagt während der Gymnastikstunde, dass sie seit dem Krebs weiß “wie der Hase hoppelt” und ich sehe einen Hasen vor mir, der mich fragend anschaut und gar nichts weiß, so wie ich.
Am Abend springe ich wieder ins Wasser. Nur die Luftblasen auf den Nägeln und ich. Einen Kilometer Wasserstrecke pro Tag. Mein Handtuch habe ich auf eine der gelben Liegen gepackt. Meine Liege. Mein Ort. Ich kann mich treiben lassen. Ich spüre meine Beine, meine Arme und meinen Kopf wenn er ganz unter die Wasseroberfläche taucht. Mein Kopf leert sich. Da ist kein Vermissen, kein Fehlen von Umarmungen und kein Gedanke ans Sterben.
Nach einem Kilometer trete ich aus dem Becken. Ich hülle mich in mein großes Handtuch und nehme Platz. Das hätte ihr gut gefallen, dass man hier so gut schwimmen kann, denke ich. Wir hätten zusammen in den gelben Liegen gesessen und uns über das Leben unterhalten. Wir hätten uns irgendwann umarmt, gute Bücher ausgetauscht und dann wären wir einen Kaffee trinken gegangen und hätten gelacht. Ein bisschen über Petra und Birgit, aber am Meisten über uns selbst.
“Du wirst eines Tages noch eine berühmte Autorin. Ich hebe all deine Postkarten auf”, schrieb sie mir mal und fühle die Luftbläschen auf meinen Nägeln, während ich noch ein paar Bahnen ziehe. Vielleicht das, oder vielleicht auch einfach nur gesund und am Leben? Ich werde den Hasen fragen.
In ihrer letzten Nachricht stand: Das schlimmste wäre, wenn ihr nicht mehr über mich sprecht. Also schreibe ich über sie und denke: Sie hätte das gemocht.
Für J. Du fehlst.
Alu
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RM
22. November 2024 at 12:45Mein herzliches Beileid für Deinen Verlust!