Als ich am Anfang der Woche bei einer Ärztin war, hatte ich meine Krebs -Unterlagen nicht bei. Normalerweise bin ich es inzwischen gewohnt alle Unterlagen in einem Ordner mitzuführen, aber irgendwie dachte ich dieses Mal nicht daran alles in Papierform mitzunehmen.
In meiner Arztpraxis, die ich das letzte Mal vor dem Krebs betreten hatte, wurde ich am Tresen nach meinem Anliegen gefragt. Ich nannte es und die Sprechstundenhilfe war erstaunt, warum ich denn so eine Anfrage hätte. Ich erläuterte kurz, dass ich nach einer längeren Krankheitsphase diesen Besuchsgrund habe und ab da ging es los.
Die Sprechstundenhilfe wollte nun alles wissen: Welche Erkrankung? Wann war die Erstdiagnose? Chemotherapiezyklen, bis wann? Wurde erst operiert und was genau?
Mit jeder Frage wurde mir dieses Gespräch immer unangenehmer, ich bot der Sprechstundenhilfe an ihr mein “Tumorboard” direkt per E-Mail zuzusenden, aber das wollte sie nicht und fragte immer weiter. Ich fühlte mich wahnsinnig unwohl, zumal hinter mir auch noch weitere Mitmenschen warteten.
Immer weiter ratterte die Frau ihre Fragen herunter. Als sie beim Stichwort OP angekommen war, zeigte sie auf ihre beiden Brüste und sagte lapidar “Beide Brüste ab?” und ich war kurz davor an diesem Punkt zu weinen. Ich nickte. “Ja, beidseitige Mastektomie”, gab ich zu Protokoll. Es folgte die Daten der Bestrahlung und weitere Daten und Fakten. Als sie ihre Informationen erhalten hatte, schickte sie mich wegen eines vollen Wartezimmers nochmal eine Runde um den Block und ich schlurfte zum nächsten Café für einen Moment Ruhe.
Hatte ich gerade meine Krebserkrankung in Zahlen und Fakten heruntergebrochen? Hatte ich eben von diesem Trauma, meiner Angst zu sterben, meinem körperlichen Verlust als reinem Zeitablauf gesprochen?
Ich hatte die Daten alle heruntergerattert, wusste sie alle noch ganz genau. Ich kenne den Tag der Erstdiagnose, den Tag als ich das letzte Mal meine eigenen Brüste im Spiegel betrachten konnte. Ich kenne die Zeiten meiner aller letzten Periode und das Enddatum der Bestrahlung. Ich weiß genau wann die letzte Chemotherapie gewesen ist. Ich hatte von meinem Krebs als reinem Abschnitt, als Vergangenheit und abgeschlossenes Projekt auf einer Zeitschiene erzählt und noch während ich dies getan hatte, fühlte ich mich so seltsam. Als wäre Krebs ein zeitlicher Rahmen der sich abschließen lässt. Als wäre Krebs etwas, dass man “nur noch” so erzählen kann, ohne Emotionen, ohne Innehalten.
Ich war direkt in diese Übung hineingestolpert, in die Übung des “Hintersichlassen”, in die Übung des “Versachlichens” von etwas, dass einem eine Scheissangst einjagt. Ich wurde überrumpelt, vor allem von mir selbst. Dabei ist doch klar: Noch so oft werde ich in meinen kommenden Jahren über diesen Abschnitt in meinem Leben sprechen müssen. Ich werde Daten und Fakten runterrattern müssen, damit mein Gegenüber mich einzuordnen weiß. Es sollte mich nicht erschrecken, aber das hat es trotzdem getan.
Für mich war es eine total neue Erfahrung. Obwohl ich bis 02/25 noch diese Tablettenchemotherapie nehmen muss und bis 2033 noch eine volle Packung Antihormontherapie bekomme, musste ich über einen großen Batzen meines eigenen Werdegangs sprechen, der hinter mir liegt. Das war neu, seltsam und auch etwas verstörend. Die Sprechstundenhilfe hielt mich anscheinend für geübt. Sie bemerkte meine Unsicherheit und meine Scham nicht, an einem vollen Tresen darüber zu sprechen, dass ich fast gestorben bin.
Als ich, nach einem Getränk, wieder in die Praxis kam wurde ich dann sofort aufgerufen. Nachdem sich die Tür zum Untersuchungszimmer hinter mir schloss, schaute mich meine Ärztin an und sagte “Was für eine Kacke, ich freue mich sie zu sehen”, und ich schaute sie an uns antwortete einfach nur “Sie fassen es richtig zusammen, das ist eine große Kacke” und dann sprachen wir über meinen Grund des Besuchs und über das Wetter.
Alu
Ein Jahr Scheiße am Schuh, ein Jahr nach der Diagnose #Brustkrebs
6 Comments
Mary
10. September 2023 at 09:24Moin aus Bremen, das ist schon spannend, warum man nicht einfach ganz sachlich sagt, dass man das nicht am Tresen en publique erörtern möchte, sondern wie ferngesteuert reagiert und – mir wäre es haargenau so ergangen und ich hätte mich sehr geärgert im Nachhinein.
Weil – was wäre schon passiert? Man hätte dich sicher nicht aus der Praxis geschmissen.
Tut mir sehr Leid, dass du da durch musstest!!!
LG
Mary
Nadine
11. September 2023 at 10:20Was für eine unangenehme Erfahrung! Vielleicht solltest du das aber wirklich der Praxis rückmelden, dass es für eine solch ausführliche Anamnese besser wäre, dass in einem separaten Raum zu machen.
Bei meiner Gyn gibt es einen kleinen Raum, wo normalerweise das “Labor” gemacht wird (Blutabnahme, Blutdruck messen, Urinwerte bei Schwangerschaft, Impfungen etc.) und bei jedem Termin geht man erst dort rein und bespricht mit der MFA, warum man da ist und was man evtl. für Wünsche o.ä. hat.
Ähnlich bei unserem Kinderarzt: Da wird man im Behandlunsgraum erst von der MFA befragt bzw. die Messungen durchgeführt, die sie schon machen kann und dann kommt der Kinderarzt hinterher…
Wie das bei meiner Hausärztin läuft, kann ich gar nicht genau sagen, aber ich bin mir sicher, dass in jeder Praxis Lösungen geschaffen werden können, damit man seine Krankengeschichte nicht direkt vorne am Tresen präsentieren muss.
Sophie
26. September 2023 at 07:13Sich der Angst zu stellen und zu lernen, über Krebs zu sprechen, ist ein mutiger Weg. Ihre Ehrlichkeit ist inspirierend
Wenn die Angst kommt, dann laufe ich ihr entgegen
28. Februar 2024 at 20:52[…] Wie ich lernte über den Krebs zu sprechen #Brustkrebs […]
Über das, was man Oberweite nennt
13. Mai 2024 at 20:53[…] Wie ich lernte über den Krebs zu sprechen #Brustkrebs […]
Wenn jemand Krebs hatte – bleibt das Leben fragil!
15. Juli 2024 at 07:41[…] denn meine Frau hat entschieden, nicht zu schweigen. Das hat manches Mal Nerven, Anfeindungen und schließlich Freundschaften gekostet. Denn es ist nicht jedem Mitmenschen recht, dass die Liebste ihre Erkrankung auf ihren […]